Dies ist nun einer der seltenen Momente, in denen dieser*s Blog einen eindeutigen Spannungsbogen hat (Insider-Witz für Frau Brüllen). Aufmerksame Leser werden sich erinnern, dass ich hier schon einmal über das Theaterstück geschrieben habe, das von Deutschen und Geflüchteten gemeinsam entwickelt wurde. Gestern hatten wir nun endlich die Gelegenheit, Letter to the World zu sehen, nachdem die Premiere vorgestern restlos ausverkauft war. (Ausverkauft heißt in diesem Fall, dass alle Plätze reserviert waren – der Eintritt war kostenlos, eine Spendenbox wurde aber aufgestellt.)
Die beiden bisherigen Vorstellungen fanden im Mensch Meier statt, einem Club an der Storkower Straße, in unmittelbarer Nähe zu der Flüchtlingsunterkunft, in der der Hase ab und zu aushilft. Der Club ist eine beliebte Anlaufstelle vor allem der jüngeren Geflüchteten und hat sich ihnen von Anfang an aktiv geöffnet. Unser Freund M., über den ich im oben verlinkten Post bereits geschrieben habe, verbringt ganz Berlin-typisch seine Wochenenden größtenteils (und schlaflos) dort. Sowohl er selbst als auch der Chef des Mensch Meier gehören zu den Protagonisten von Letter to the World.
In diesem Stück arbeiten junge Syrier und Iraker ihre Erfahrungen mit den Bürgerkriegen in ihren Ländern, mit der Flucht und dem Ankommen hier in Deutschland auf. Es richtet sich hauptsächlich an ein deutsches Publikum, aber unter den Zuschauern waren auch viele Bewohner der Unterkünfte in der Nähe. Auf der Bühne wird Deutsch, Englisch und Arabisch gesprochen und gesungen. Für Arabisch und Deutsch gibt es jeweils eine Simultan-Übersetzung mit Einblendungen, das Englische wird vorausgesetzt, ist aber nicht so kompliziert, dass es der durchschnittlich gebildete Deutsche nicht verstehen würde.
Bevor es losging, wurden einige Ansagen gemacht: Zum Einen wurde darum gebeten, während der Vorstellung weder Fotos noch Videos zu machen und auch die Handys komplett auszustellen. Da ich nichts zu Schreiben zur Hand hatte, muss ich mich also beim Aufschreiben meiner Eindrücke auf mein Gedächtnis verlassen. Die andere wichtige Ankündigung war der Hinweis auf die drei Notausgänge, die genutzt werden konnten, wenn einem das Ganze zu sehr zu Herzen ginge. Ein paar der (geflüchteten?) Zuschauer haben im Laufe des Stücks diese Möglichkeit genutzt, aber ich denke, dass Durchschnittsdeutsche ohne direkte Erfahrungen mit Krieg, Terror oder dem gewaltsamen Tod von nahestehenden Personen das Stück gut aushalten können. Die eine oder andere Träne wird sicherlich trotzdem verdrückt, aber es gibt auch immer wieder Momente zum Freuen und ein sehr optimistisches, lebensbejahendes Ende.
Das Szenenbild ist sehr spartanisch gehalten – eine weiße Wand, ein paar offene schwarze Kisten und eine Rolle leeres Papier schaffen den Hintergrund und werden mit Kreide und Farbe in die Handlung und Aussagen mit einbezogen. Die Kisten werden Szene für Szene neu angeordnet und mal als Sitzgelegenheit, mal als Mauer, Ruine, Boot, Rednerpult oder Sarg verwendet – und stehen sicherlich auch als Symbol für den stetigen Neuanfang und das sich immer wieder neu Sortieren oder gar neu Erfinden müssen.
Neben den eigenen (oder zusammen geschriebenen) Erfahrungen der Protagonisten werden auch Texte von Ghayath Almadhoun, Hannah Arendt, Rose Ausländer, Ingeborg Bachmann, Dietrich Bonhoeffer, Hilde Domin, Erich Kästner, Klaus Mann, Selma Meerbaum-Eisinger, William Shakespeare und Kurt Tucholsky in die Handlung eingewoben. Dass das so nahtlos geht, macht deutlich, dass Krieg, Terror, Flucht und Vertreibung universelle Erfahrungen sind, die jedem Menschen “passieren” können und dass wir hier in Deutschland im Moment einfach nur verdammtes Glück haben, dass wir diesmal nicht betroffen sind.
Warum es nun gerade Syrien (und den Irak) trifft, ist eine unbeantwortete Frage, die immer wieder aufgeworfen wird: Warum ausgerechnet unser Land, warum ausgerechnet wir? Warum müssen wir auf einmal Flüchtlinge sein? Warum lebt ein 14-jähriger allein in der Fremde, ohne seine Familie? Es ist ungerecht, wahllos, zufällig. Dass dieses Geschehen eine Zäsur ist, dass das alte Leben endet und ein neues beginnt, wird immer wieder betont. Der Körper ist auf der Flucht, während Herz, Gedanken und Seele in der Heimat bleiben. Eine Heimat, in die man so schnell wie möglich zurückkehren will, weil man sie nun einmal liebt und sie Teil von einem Selbst ist.
Die Unsinnigkeit der ganzen Situation wird zum Beispiel deutlich, als die Geschichte eines Anwalts erzählt wird, vor dessen Haus Männer in “afghanischer Kleidung” und langen Bärten auftauchen, die ihn für einen Beamten gleichen Namens halten. Er zeigt ihnen Papiere, die beweisen, dass er nicht Beamter, sondern Anwalt ist. Allerdings können die Männer nicht lesen. Sie durchsuchen das ganze Haus nach Beweisen und nehmen ihn schließlich mit, während Frau und Kinder zurück bleiben. Eine Odyssee beginnt, weil diejenigen mit den Waffen in der Hand nicht lesen können.
Das Stück beleuchtet diverse Aspekte der Flüchtlingserfahrung und lässt die Zuschauer ganz nah teilhaben, etwa dabei, wie es ist, nachts im Dunkeln in einem Schlauchboot auf dem Meer zu sein und zu glauben, dass der eigene Tod nahe ist. Die Erleichterung, als die türkische Küstenwache auftaucht, wird hautnah miterlebt. Doch diese Rettung ist nur eine kurze Erleichterung, eine Etappe auf der “Todesreise”.
Was man über die Flüchtlinge liest, oder sich vorstellt, wird mit der Realität abgeglichen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich gemacht, dass man ihr Schicksal eben nicht nachempfinden kann: Auch die Protagonisten selbst haben einmal wie wir ungläubig die Schicksale anderer Geflüchteter verfolgt, in dem Glauben, ihnen selbst könne das nie passieren. Niemand weiß, wie das ist, bis man es nicht selbst erlebt hat.
Eigentlich traurig, denke ich, dass das Stück immer mal wieder den Zeigefinger heben und Missverständnisse aufklären muss. Wie so oft ist es Sache der Opfer, zusätzlich zum Ertragen ihrer misslichen Situation auch noch Aufklärungsarbeit leisten zu müssen und uns, die wir frei von ihren Sorgen sind, diese Aufgabe abzunehmen. Aber gerade weil das Stück genau diese Aufklärung schafft, und zwar ohne dabei allzu belehrend und anklagend zu werden, waren wir uns hinterher einig, dass noch viel mehr Leute die Gelegenheit bekommen sollten, es zu sehen. Wenn es nach mir ginge, sollte es Pflichtveranstaltung an Schulen werden und durch Aufführungen auf diversen Bühnen einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Einige weitere Vorstellungen sind wohl auch bereits in Planung.
Am Ende von Letter to the World hat man jeden der Protagonisten etwas besser kennengelernt, versteht die Vielzahl der Schicksale und eben auch, wie ähnlich wir uns eigentlich sind. Ganz zum Schluss erlebt das Publikum dann, wie aus der tiefsten Verzweiflung und Trauer Hoffnung und gar Euphorie werden kann, wenn wir uns alle als Menschen begreifen, die zusammen in einem Boot sitzen. Die letzten Tränen sind Freudentränen.