Von 2006 bis 2011 war ich jedes Jahr auf dem Immergut – zuerst quasi „beruflich“, mit Gästelistenplatz, Interviewtätigkeit (legendär zum Beispiel Friska Viljor – völlig betrunken und verschwitzt nach dem Konzert auf dem Boden eines aufgeheizten Bauwagens sitzend) und Radio-Merch-Verkauf, später dann einfach als Festivalbesucherin, mal zu mehreren, mal „allein“. 2011 hatte dann die Orga gewechselt und alles kam mir plötzlich anders vor – die Musik zu wenig gitarrenlastig, das Publikum zu jung und glitzerig – und dann habe ich mir für 2012 kein Ticket gekauft. 2018 hatte ich dann aus Gründen wieder Lust, wollte mich wieder jung und frei und selbstbestimmt fühlen und fuhr wieder hin. Alleine und es war toll. 2019 war ich auch da und dann kam die Pandemie.
2020 fiel das Immergut aus und ich wäre auch nicht gefahren, wenn nicht. 2021 gab es eine abgespeckte Version im Spätsommer und ich habe mich noch nicht getraut. 2022 fuhr ich mit Tränen in den Augen am Immergut vorbei zu einem Wochenende auf Usedom, von dem ich weite Teile im Liegestuhl verbracht habe, weil ich zwei Monate nach Covid noch sehr schwach war. Damals habe ich mir geschworen, 2023 wieder zu fahren. Dieses Jahr ist es wieder zwei Monate nach Covid, aber es geht mir deutlich besser als letztes Jahr und so nehmen die Dinge ihren Lauf.
Ich schlafe einigermaßen aus (bis halb 9) und lasse mir dann viel Zeit bei der Morgenroutine. Ziemlich schnell wird mir klar, dass ich einen Zug später nehmen werde, um möglichst stressfrei zu sein. Ich mache mir ein gemütliches Balkonfrühstück, dusche ausgiebig, versorge die Katzen und die Pflanzen, siebe das Katzenklo durch, packe meine Sachen und muss mich dann am Ende doch sputen, um pünktlich Dreiviertel 1 in der S-Bahn zu sitzen. Klappt aber. Am Gesundbrunnen steige ich in den sehr vollen RegionalExpress, bekomme aber zum Glück noch einen Sitzplatz. Dann gibt es ein Problem mit den Türen, das für etwa 20 Minuten Verspätung sorgt, aber das ist jetzt auch egal.
14:20 Uhr sind wir in Neustrelitz und der historische Zug der Hafenbahn, der uns zum Festivalgelände fährt, wartet schon am Gleis gegenüber. Ein heimeliges Gefühl beschleicht mich und all die anderen berucksackten Menschen. Am Einlass zeige ich meinen Ticketcode vor und bekomme mein Bändchen, das Begleitheft und drei verschiedenfarbige Müllbeutel samt Müllpfand ausgehändigt. Damit laufe ich glücklich über den Zeltplatz zu meinem Stammstandort, der aber aufgrund der Neustrukturierung des Festivalgeländes belegt ist. Stattdessen suche ich mir ein Plätzchen in zweiter Reihe, unter einer Birke, und lege meinen Rucksack und meine Jacke möglichst breitflächig aus, bevor ich mich – die Wertsachen im Beutel bei mir – auf die Suche nach den Klos mache.
Dann setze ich mich ein Weilchen zu meinem Rucksack und lese, bis mir langweilig wird. Ich spaziere hinüber zum Festivalmarktplatz, lasse mir einen Rhabarbercider in meinen Immergutbecher füllen (aus Emaille, mit Henkel, 2019 gekauft, glaube ich) und lausche dem Podiumsgespräch einiger Podcasterinnen. Dann ruft auch schon meine Zelttransporteurin an und wir treffen uns zur Übergabe. Nach einer Viertelstunde steht mein Zelt und ich lege mich erst einmal gemütlich hinein und döse eine Weile weg. Gegen 17:30 Uhr kehre ich hungrig zum Marktplatz zurück und esse eine vegane Quesadilla mit Guacamole. Dabei verfolge ich das Immergut-Quiz, das auf der Bühne stattfindet und kann aus dem Stand zwei Fragen beantworten.

Ein alter Rostock-, Immergut-, Berlin- und Kneipenquiz-Kumpan gesellt sich zu mir und wir quatschen eine Runde. Er wird dieses Wochenende 45 und fand das einen guten Anlass, mal wieder zum Immergut zu fahren – Recht hat er! Während wir reden, sagt auch noch eine andere alte Bekannte „Hallo“. Das meine ich damit, dass man ja eigentlich nie „alleine“ herkommt. Es hat noch keine Band gespielt, aber ich habe schon drei bekannte Gesichter getroffen und davon nur eins verabredet.
Als das Quiz vorbei ist, wird es dann auch bald Zeit, dass das Festivalgelände aufmacht und Brockhoff mit ihrem Konzert das Festival offiziell eröffnet. Softer Gitarrenpop mit schöner Stimme, den ich mir bis fast zum Schluss anhöre, bevor ich mir in Ruhe das Festivalgelände anschaue. Gegen den Durst gibt es ein Lübzer Naturradler Grapefruit in den Becher. Als nächstes spielen AZE aus Österreich türkisch angehauchten ruhigen R‘nB. Dann ist Martin Kohlstedt dran, der Elektroelemente und Klavier zu abgefahrenen Klangteppichen verknüpft. Gegen Ende kann man sogar mal kurz tanzen.
Ich hole mir zum Abendbrot eine große Tüte Pommes mit Aioli und Mango-Chili-Sauce – alles vegan – und spaziere weiter umher. Langsam wird es dunkel und damit auch gleich ganz schön kalt. Ein dicker Wollpullover mit Kapuze hilft ein bisschen. Während Futurebae spielt und das jugendliche Publikum in Partystimmung bringt, hole ich mir noch einen großen, heißen, dunklen Kakao in meinen Becher, der nochmal ein wenig Lebensgeister weckt. Genug um ungefähr die Hälfte des Konzerts von Die Nerven mit Enthusiasmus zu begleiten, zu tanzen und ein bisschen die Haare zu schütteln. Da kam kurz das alte Immergut-Feeling der Nuller Jahre wieder auf.
Es ist aber jetzt auch wirklich kalt – 5 Grad sagt der Wetterbericht als Tiefsttemperatur für die Nacht voraus. Ich statte den wundervollen Kompostttoiletten noch einen letzten Besuch ab und gehe dann ins Zelt. Mit Schlafanzughose, Schafwollsocken und einer Fleece-Decke krabbele ich in meinen Schlafsack und höre den letzten Takten von Die Nerven zu, bevor auf dem Marktplatz die Immergut-Organisator*innen mit dem Auflegen beginnen. Es gibt eine wilde Mischung von Pop der letzten sechs oder sieben Dekaden in laut, ungefähr direkt neben meinem Kopf. Zudem ist es wirklich arschkalt.
Ich wälze mich hin und her, optimiere immer wieder die Position der Decke und döse immer mal wieder weg. Gegen 4 ist die Musik dann vorbei und es wird still auf dem Zeltplatz, aber auch ganz langsam wieder hell.