Ich erwache früh, schon kurz nach 7. Im Haus ist schon einiges los. Natürlich bleibe ich aber trotzdem noch lange im Bett liegen, lese im Internet, mache Sprachlerndinge, blogge… Dann gehe gegen halb 10 runter zum Frühstück und werde vorpommersch herzlich begrüßt – der einzige andere Gast im Raum nickt mir zu und die Frau von der Pension möchte erst einmal Kurtaxe – in bar und jetzt sofort. Ich gehe also nochmal hoch und habe zum Glück passendes Kleingeld. Nach dem Bezahlen guckt die Frau auf meine besockten Füße, hält einen Vortrag über Versicherungen in der Gastronomie und ich gehe also nochmal hoch und ziehe mir meine Wanderschuhe an. Dann ist sie zufrieden. Am Buffet stelle ich mir mein Frühstück zusammen – Müsli mit Sanddornquark, Kaki und Kiwi, Käsebrot, Brötchen mit hausgemachten Marmeladen – ich entscheide mich für Sanddorngelee und Rosengelee – hartgekochtes Ei, schwarzer Tee, Multivitaminsaft.
Während ich esse wird es weniger vorpommersch. Man spricht über das Wetter, ich erkundige mich nach der Sturmflut letzte Woche („Wir haben ja Deiche“), dann bekomme ich von den vielen Tieren auf der Insel erzählt. Die Wildschweine kommen schon bis ganz nach Süden, ursprünglich schwimmen die ja von Rügen rüber, Damwild auch. Und viele Kormorane gibt es im Süden, die stehen zwar unter Naturschutz, „aber die fressen schon viel Fisch weg“, die Seeotter auch und ein paar Robben gibt es auch noch. Dann geht die Frau in meinem Zimmer Zimmerservice machen und lobt mich hinterher, wie sauber es doch war. Bisschen doll familiär hier, wie im Cheshire Cat Inn.
Nach dem Essen mache ich mich schnell fertig und gehe nach draußen. Erst laufe ich wieder hinunter zum Hafen (gestern war es ja dunkel) und versuche, meine Erinnerungen von früher hervorzuholen und abzugleichen. Die Bilder aus meinem Kopf passen wenig zusammen mit der heutigen Realität, sind aber auch schon über 30 Jahre alt. Ich habe mehrere Sommerurlaube hier verbracht, beim letzten war ich 7, zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Auf einem der Fotos habe ich den Teddy in der Hand, den mir meine Eltern bei unserem ersten Besuch in Westberlin gekauft haben – mein Begrüßungsgeld-Teddy sozusagen.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Hafen von der Gangway aus, Fahrräder, Handwägen, Pferdefuhrwerke – alles da, sieht aber anders aus – außerdem sandig-schlammige, unbefestigte Straßen (Check) und wenn es nach meiner Erinnerung von damals geht (oder der mit 4, 5, 6?) müsste es irgendwo eine Straße nach rechts ab geben, dort eine Bauernkate mit Reetdach, darin eine Ferienwohnung mit einem durch einen Vorhang abgetrennten Bereich mit Betten und hinten auf dem Hof ein Plumpsklo. Bloß ist da rechts gar keine Straße. Nun ja, der Orientierungssinn von Kindern… Vielleicht können mir ja mitlesende ältere Familienmitglieder einen Tipp hinterlassen, wo das war. 😉 (Edit: Mein Bruder hat geliefert, die Straße ging links rein, nicht rechts.) Ich laufe dann quasi vom Bodden bis zur Ostsee, einmal durch das ganze Dorf, und schaue mich um.

Es sprühregnet im Laufe des Tages immer wieder mal, ich habe aber einen Schmuddelwetter-Wintermantel, eine Kapuze und sogar eine Mütze, komme also insgesamt ganz gut durch. Am Strand jauchzt mein Herz kurz auf ob der helltürkisen Ostsee bei diesem grauen Himmel, dann laufe ich ein Stück Richtung Norden, zur Steilküste. Anders als die anderen Spaziergänger*innen ist mein Blick nicht auf den Boden geheftet, auf der Suche nach Bernstein, Hühnergott und Donnerkeil, sondern ich schaue aufs Wasser. Das mit den Steinen mache ich bestimmt auch noch, gehört ja dazu.

Dann nehme ich eine der Treppen nach oben und laufe oben entlang, durch die herbstliche „Botanik“ mit immer wieder schönen Blicken aufs Meer, im/durch den Dornbusch bis fast zum Leuchtturm. Dabei versuche ich, alte Erinnerungen hervorzukramen – wann war ich hier, wer war noch alles da, welche Erinnerungen gehören hier auf die Insel und welche nach Warnemünde? Was sind echte Erinnerungen und was sind Fotos? Roch es in Kloster wirklich nach Kuhscheiße oder war das nur der Geruch vom Plumpsklo? Wo stand der Softeis-Automat mit dem Himbeer-Vanille-Eis, gab es den wirklich und kostete das Eis 50 Pfennig? Ich laufe die Pfade, die schon mindestens drei Generationen meiner Familie entlanggelaufen sind und überlege, wer schon alles hier war und wer noch regelmäßig herkommt. Es sind viele. Und dann fällt mir ein, dass mein Bruder hier mit meiner Tante im Urlaub war, als ich geboren wurde und evtl. gibt es die Geschichte, dass er dann dringend früher zurück nach Berlin wollte – oder hat das meine Tante dazu erfunden und sie kamen planmäßig zurück?



Als ich im Klausner einkehre, ist es kurz nach 12. Ich erinnere mich an den Außenbereich und habe einen Geschmack im Mund von DDR-Gaststätte, unbestimmt, irgendwas mit Fleisch und Rotkraut? Oder vermischt sich das mit der „Suppe“ aus Lutz Seilers „Kruso“? Ich überlege, ob mein Cousin damals in den 80ern hier mit den „Aussteigern“, „Schiffbrüchigen“, am Strand rumgehangen hat, er war damals in dem Alter. Oder meine jüngste Tante? Und welche Geschichten gibt es noch von damals? Haben die Generationen vor mir hier mit den ganzen Künstler*innen Umgang gepflegt? Hätte Lust auf einen Familienroman, über Generationen weg, erzählt entlang der Sommer auf Hiddensee.

Im Klausner gibt es Sanddorngrog, und damit der nicht gleich so zu Kopfe steigt noch Eierkuchen mit heißen Kirschen. Zu spät fällt mir ein, dass der Apfelstrudel hier die Spezialität des Hauses ist, ich glaube auch damals schon – vielleicht komme ich nochmal wieder? Auch hier wieder vorpommersch herzlicher Empfang – die Hausherrin erklärt patzig, dass die Quarkplinsen alle sind und läuft erst weiter, bevor sie meine Aufweichbestellung aufnimmt. Im zweiten Anlauf ist sie dann aber sehr freundlich.


Nach dem Grog geht es hoch zum Leuchtturm. Meine Cousine erzählte mir noch, wie neidisch sie sei, dass ich den jetzt frisch renoviert zu Gesicht bekäme, die Arbeiten dauern aber noch an. Ich schaue mich da ein wenig um, laufe dann weiter, über Stock und Stein und auf überwachsenen Pfaden.



Auf einer Lichtung spricht mich ein Wanderer an und wir unterhalten uns kurz über die Beschaffenheit der Wanderwege. Er weist mich darauf hin, dass es dort, wo ich eigentlich lang möchte, nicht lang geht – auf den Wanderkarten sind die Wege als gesperrt markiert und noch weiter hinten darf man nicht lang, weil dort Wildschutzgebiet ist. Er ist sehr nett, aber dann kommt er auf den Klimawandel zu sprechen, der „das sagen viele“ auch mit Schuld ist an der Küstenerosion, dabei „wandelt sich das Klima seit Millionen Jahren“. Er merkt wohl, dass er da bei mir auf Granit beißt und verabschiedet sich. Kurz danach nehme ich auch den Weg nach unten, Richtung Bodden.

Ich laufe die lange gepflasterte Straße vom Eingang zu Enddorn-Nationalpark über Grieben zurück nach Kloster. Auf dem Weg telefoniere ich ausgiebig mit dem Liebsten und dem Teilzeitkind, so dass mir die Zeit nicht lang wird. Zurück in Kloster gehe ich kurz in einen Laden und kaufe stilles Wasser – meine Wasserflasche passt nicht unter den Hahn im Zimmer und die Flasche Wasser in der Pension kostet das vierfache wie im Laden – und als Snack für heute Abend beim Lesen Geleebirnen in dunkler Schokolade. Eigentlich will ich nur kurz die Einkäufe auf mein Zimmer bringen und wieder los, dann fällt mir aber ein, dass ich Urlaub habe und ich heute schon ordentlich gelaufen bin und ich lege mich erstmal aufs Bett und ruhe mich aus. Etwa drei Stunden liege ich, lese, spiele, döse weg… Und dann ist es 18 Uhr und ich habe Hunger.

Ich laufe durchs dunkle Dorf zu dem Restaurant, das mir von meiner Cousine und meinem Bruder am wärmsten empfohlen wurde, und habe Glück, dass ich so früh da bin – so kann ich noch einen Tisch nutzen, der dann ab 19:30 reserviert ist.


Ich esse Fischsuppe und Dorsch mit Tagliatelle in Sanddornrahm und trinke eine Sanddornschorle. Die Desserts sprechen mich nicht so an (bis auf den Sanddornquark, aber den gibts in meiner Pension ja auf dem Frühstücksbuffet) und so liege ich schon kurz nach 19 Uhr wieder auf meinem Bett, mit über 14 km in den Füßen. Ich lese und knabbere Geleebirnen zum Nachtisch. Als der Liebste und das Teilzeitkind vom Abendessen mit den Großeltern zurück sind, telefonieren wir nochmal ausführlich, dann müssen die beiden Snooker gucken. Ich mache mich bettfertig und lese dann noch bis nach Mitternacht in meinem Buch weiter. So geht Urlaub.