Ich habe das Handy nicht ausreichend lautlos gestellt und werde so um 9 geweckt, als die ganzen Erinnerungen für Dinge kommen, die im Laufe des Tages zu erledigen sind. Noch ganz schön müde mache ich mich auf den Weg in die morgendliche Routine. Fertig werde ich damit allerdings nicht, denn um 11 muss ich schon aufstehen – Termine, Termine. Es gibt ein italienisches Frühstück: Kaffee, Kekse und Obst und dann bin ich halb 12 aus dem Haus und latsche durch 12 Grad warmes Wetter, der Schnee von gestern ist natürlich komplett weg und mir reicht eine Übergangsjacke. Mein Weg führt mich zu einem Optikertermin.
Ich bin – eigentlich – Brillenträgerin, seit ich ein halbes Jahr alt war. Irgendwann pendelten sich meine Werte auf einem sehr stabilen Niveau ein, das so nah an Normalnull war, dass ich die Brille immer öfter weg ließ – auch aus kosmetischen Gründen – mir aber auch keine Kontaktlinsen machen ließ. Meine allerletzte Brille habe ich mir dann 2008 geholt. Auf den Bewerbungsfotos aus dieser Zeit ist sie noch drauf und auch 2010 trug ich sie laut meinen Fotos noch regelmäßiger. Bald danach hörte das aber auf. In den letzten Jahren hatte ich immer wieder das Gefühl, dass sich die Werte langsam ändern und so nahm ich mir eher halbherzig vor, das Thema nochmal anzugehen. Der Augenarzttermin vor ein paar Monaten war in der Hinsicht unbefriedigend, weil die Werte dort nur „ungefähr“ gemessen wurden und ich an einen Optiker verwiesen wurde, wo man das „genauer“ machen würde. Kopfschütteln.
Jedenfalls ist es heute soweit und ich trete zum Sehtest an. Mein Gefühl trügt mich nicht – ich habe die alten Werte zwar nicht mehr exakt im Kopf, aber sie haben sich rechts ein wenig und links deutlicher verschlechtert. Ich hätte ja bereits vor einer Weile wieder angefangen, meine 2008er Brille zu tragen, aber die ist sowas von außer Mode, das kann ich nicht verantworten. Aber einer neuen bin ich nicht abgeneigt und so verbringe ich die nächsten bestimmt 20 Minuten damit, die vorhandenen Modelle zu scannen, Möglichkeiten einzugrenzen und mich durch das Sortiment zu probieren. Ergebnisoffen übrigens, die Brille soll ja langfristig gefallen, da darf sie auch was kosten. Und obwohl ich mir Mühe gebe und auch die teuersten Marken anprobiere, lande ich am Ende bei einem Modell aus dem günstigsten Preissegment. Das ist dann, mit allen technischen Schikanen ausgerüstet, aufgrund einer aktuellen Rabattaktion nur unwesentlich teurer als die Brille von 2008 – trotz aller Inflation – so dass ich mir das gleiche Modell direkt auch noch als Sonnenbrille ausfertigen lasse. Später am Abend recherchiere ich dann noch online und stelle fest, dass der Rahmen auch noch aus nachhaltigen Materialien produziert ist und mit Bio-Acetat aus Italien – die musste mich ja finden. Nächste Woche kann ich sie abholen.
Nächster Programmpunkt ist der Copyshop, ich habe für einen meiner Kurse etwas in Farbe auszudrucken, das es dann gilt, an Stellen aufzuhängen, wo ich es tagtäglich wahrnehmen kann. Ich hänge es später neben mein Bett, über meinen Schreibtisch, an meine Pinnwand und an den Kühlschrank, bin aber sicher, dass die Version, die ich als meinen Desktop-Hintergrund gesetzt habe, diejenige sein wird, die am Ende den Unterschied machen wird. Egal, der Gedanke zählt.
Als letzten Punkt vor meiner Heimkehr geht es zur Post, endlich das Päckchen abholen, das mir Freitag angeblich nicht zugestellt werden konnte. Darin ist ein neues Fitness-Armband. Für mein bisheriges wird bald der Support eingestellt und es hat auch schon einige Macken. Das neue soll stabiler sein, berechnet mein Schrittziel intelligent statt nach von mir festgelegten starren Zahlen und kann nicht vibrieren, wenn jemand was von meinem Handy will. Evtl. tut das meinem Stresslevel gut? Für den Übergang und um zu gucken, wie sich die Messwerte evtl. unterscheiden, trage ich jetzt erstmal beide parallel.
Wieder zuhause habe ich jetzt endlich Zeit für meine Sprachübungen. Mehr als eine Stunde widme ich der französischen und der italienischen Sprache heute. Danach ist es Zeit für Stollen, Tee und Mandarine. Außerdem breche ich endlich den großen Kanister Quittensaft an, der hier schon seit Wochen steht aber offiziell erst gestern mit der verspäteten Bescherung in meinen Besitz übergegangen ist. Sehr lecker!

Nach dem Essen ist es draußen jetzt richtig sonnig, so dass ich nochmal einen ausführlichen Spaziergang mache, bis es dämmrig wird und danach die Schrittziele beider Armbänder erreicht sind.

Wieder zuhause widme ich mich zweien meiner Kurse, für die Hausaufgaben anstehen, meditiere eine Runde, koordiniere Termine mit der neuen Mitbewohnerin und gucke dann live die Pressekonferenz, die Justin Trudeau zu seinem Rücktritt gibt. Das ist aus diversen Gründen interessant, nicht nur, weil mir die politische Situation da drüben aus Gründen am Herzen liegt und ich zumindest 2015 sehr begeistert von seinem diversen und progressiven Kabinett war. Auch, weil da möglicherweise bald der nächste Trumpist an die Macht kommt und das nächste große Land in den nächsten Wochen, pünktlich zur Trump-Amtseinführung, politisch wenig handlungsfähig sein wird, ausgerechnet auch noch während Kanada den G7-Vorsitz innehat.
Es ist auch sprachlich spannend. Trudeau grüßt und verabschiedet sich auf Quebecois, seine Rede ist in Abschnitte unterteilt, die er erst auf Englisch und dann auf Quebecois vorträgt und die Fragen der Journalist*innen werden in jeweils einer der Sprachen gestellt und von ihm dann erst in dieser, dann in der anderen Sprache beantwortet. Die Fragen selbst werden nicht übersetzt. Ich bin beeindruckt, wie komplett seine Übersetzungen sind. Ich habe sowas ja auch schon gemacht, mit Deutsch und Englisch, und weiß, wie leicht man in der zweiten Sprache dann Abkürzungen nimmt oder etwas vergisst, weil es zu viel Text auf einmal ist. Entweder ist er wirklich sehr schlau (und natürlich geübt), oder seine Antworten werden in Echtzeit übersetzt und ihm dann auf den Teleprompter geschoben. Auf jeden Fall gehört zur kanadischen Spitzenpolitik eine ganze Menge mehr sprachliches Können, als zur deutschen.
(Sidenote: Meine Französisch-Auffrischung zahlt sich aus, ich verstehe zwar nicht jedes Wort, kann aber verfolgen, dass er inhaltlich auf Quebecois wirklich genau das Gleiche sagt, wie auf Englisch. Und mich herrlich über diesen Dialekt amüsieren – Bonn matteng!)
Zwischen Abtritt Trudeau und Wahlbestätigung Trump passt das Kochen des Abendessens. Heute gibt es Pappardelle mit (getrockneten) Steinpilzen.

Beim Essen gucke ich den Livestream aus dem Capitol. Vor vier Jahren guckten der Liebste und ich das auch parallel und waren dann live dabei, als sich die Ereignisse vom 6. Januar zutrugen. Danach war für uns klar, dass Trump nie wieder antreten, geschweige denn gewählt werden kann. Tja. Heute läuft alles geordnet und nach Vorschrift ab und Kamala Harris zertifiziert mit viel Würde das Wahlergebnis. Man würde sich ja eine kleine Spitze oder so eine Mini-Insurrection wünschen, aber natürlich sind die Demokrat*innen brav und der Faschismus kann einkehren. Einzig schön ist, wie Amy Klobuchar und die anderen, die die Ergebnisse aus den einzelnen Staaten vorlesen, Kamala Harris dabei immer mit „Madam President“ ansprechen, Frau Klobuchar tut das mit trotzigem Enthusiasmus.
Den Rest des Abends verbringe ich dann eskapistisch mit diversen Folgen Parenthood und gehe wieder viel zu spät ins Bett.