06.12.2024 – Freundinnen

Ich erwache zu keinem Nikolaus, hatte meine Stiefel nicht geputzt, an den Wanderstiefeln klebt noch Schlamm vom Harz dran und die Winterstiefel sind aus Wildleder. Dafür aber habe ich heute zwei Türchen zu öffnen, weil ich es gestern vergessen hatte, und mixe Double Chocolat und Hazelnut zu heißer Dreifachschokolade mit Haselnuss.

Dazu gibt es den Rest aus der Schwedenmilchflasche mit Crowdfarming-Orange und Müsli. Die selbst angesetzte Filmjölk ist inzwischen ordentlich dick und säuerlich, aber nicht so prickelnd wie die Schwedenmilch. Sie wandert dann jetzt also in den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück weitere Häuslichkeiten. Geschirrspüler aus- und einräumen, zwei Pakete auspacken, neue Sportklamotten anprobieren und in die Wäsche tun, neues Laptop-Zubehör anschließen, Staubsaugen, weil ein Silikatgeltütchen aufgegangen ist, Geburtstagsgeschenk fertig basteln und verstauen usw. usw. Zum Mittag dann belegtes Brot, halb sizilianisch. Olivenöl statt Butter, letzter Käse, Anchovis, Oregano, Tomaten. Ich richte an und muss an die Kunstgeschichte als Brotbelag vom Fräulein denken, gucke dann nochmal durch ihren Instafeed, lese dort einen Kommentar von Journelle und schlucke für beide ein Tränchen runter.

Dann sitze ich noch eine gute Stunde fleißig am Schreibtisch, bevor es Zeit ist, nach Schlottenburg aufzubrechen. Die Freundin, mit der ich in meinem Leben vermutlich am meisten gemeinsame (Alltags-)Zeit verbracht habe – sechs Jahre Uni und dann nochmal zehn Jahre Arbeit im gleichen Team – hat Geburtstag. Wir feiern mit ihrer Mama, ihrem Partner und den beiden Kindern – zwei andere Freundinnen mit ihren Kindern mussten aus medizinischen Ursachen bei den Kindern absagen, der Rest der Familie kommt Montag, wenn das große Kind Geburtstag feiert. So ist Geburtstag in den 40ern, wenn man Kinder hat.

Es werden Geschenke geöffnet, es gibt Käsekuchen, Schokomuffins und Plätzchen, die Kinder (fast 4 und fast 2) werden bespielt und zwischendurch schaffen wir Erwachsenen sogar, uns zu unterhalten. Nach dem Abendbrot gibt es für das große Kind, mich und die Freundin noch eine Runde Uno (das dritte Spiel gewinnt natürlich das Kind) und zwei Vorlesegeschichten. Dann werden die Oma und ich verabschiedet und die Kinder gehen ins Bett. Beim Schuheanziehen finde ich doch noch einen Nikolaus im Stiefel. ❤

Zurück zuhause wandere ich schnurstracks mit einer Tasse Tee in die Badewanne und liege danach eigentlich früh im Bett. Nichts aufreibendes mehr gucken heute, denke ich. Und lese ein bisschen. Und schaue dann nochmal durch die Timelines und sehe da, dass es jetzt eine Doku über Jule Stinkesocke gibt und dass in der auch das Fräulein erwähnt wird. Zack, wieder hellwach. Ich denke an meine Zeit mit dem Fräulein und habe Angst, was in der Doku vorkommt und dann ggf. wieder durch die (sozialen) Medien geht. Also gucke ich noch die ersten anderthalb Folgen, bis zu dem Teil über das Fräulein. Weniger schlimm als ich befürchtet habe, aber ohne große Selbstkritik durch den SPIEGEL.

Dann bin ich natürlich weiter hellwach, aufgewühlt und nachdenklich. Erinnere mich an das erste Kennenlernen damals, beim Subbotnik im Schrebergarten einer Freundin. Da hatte ich schon hie und da vom Fräulein gehört, aber noch nicht intensiv ihr Blog und so gelesen, das kam danach. Der gemeinsame Heimweg mit ihr und dem Hasen, das viele Lachen. Später das Wiedersehen am Abend der Goldener-Blogger-Verleihung, wo ich ihren besten Freund seit Jahren kennenlernte und sich ihr Internetleben und ihr reales Leben vermischten. Die vielen Chats seitdem. Das Wiedersehen gemeinsam mit dem Hasen, vietnamesisches Essen, Eis und Reden auf dem Spielplatz. Das Reden nach Schicksalsschlägen, die fiktiven Geschichten über ihre Schwester und das ganz reale Angebot eines Schlüssels für Notfälle (ihrer für mich). Später noch ein Treffen in einem jüdischen Restaurant und dann wieder mit ihrem besten Freund. Und dann unser letztes Treffen zum Sushi-Essen, da wirkte sie etwas neben sich – der Stress im neuen Job dachte ich, nicht wissend, dass da womöglich schon die Recherchen anklopften.

Ein paar Wochen später die Enthüllungen, während ich mit wenig Empfang auf dem Immergut war. Der beste Freund schickte mir den Paywall-Artikel als PDF. Große Bestürzung, Ratlosigkeit und Sorge. Wieder zuhause schrieb ich nochmal mit ihr. Dann war große Stille. Nochmal ein paar Wochen später schrieb mir der beste Freund, dass sie tot ist. Wir verabredeten uns, fuhren gemeinsam zur Beerdigung und saßen hinterher mit ihren Eltern und alten Freund*innen bei Kaffee und Kuchen in der Wohnung, teilten schöne Erinnerungen und lernten nach und nach das Ausmaß und Realität von Fiktion zu trennen. Später kam noch ein Dankesbrief von den Eltern und einmal im Jahr schickt der beste Freund Fotos vom Grab.

Vieles davon vergraben unter all dem, was seitdem passiert ist, aber heute kommt das alles nochmal hervor.

Danach brauche ich gute zwei Stunden Berieselung und Ablenkung mit lustigen und kulinarischen TikTok-Videos und am Ende einen fachfremden Podcast, um irgendwann nach 3 doch noch einschlafen zu können.

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