Die Nacht im Flughafenhotel ist kurz und unruhig, natürlich ist sie das. Der Wecker klingelt um 3, als ich das letzte Mal aufwache und auf die Uhr gucke sind es nur noch zwölf Minuten. Also mache ich mir schnell einen Kaffee (Hotelzimmerkaffee, ich kippe zweimal Zucker und zweimal Whitener rein, damit es so früh am Morgen erträglich schmeckt) und drehe zum Wachwerden eine kurze Aufwärmrunde durchs Internet. Eine halbe Stunde später stehe ich auf, ziehe mich an, packe meine Siebensachen wieder zusammen und mache mich auf den Weg. Halb 4 checke ich aus, dann laufe ich über die Fußgängerbrücke hinüber vom Hotel ins Terminal, fünf Minuten später stehe ich am Check-in. Erstaunlich viele Menschen sind da, für einen Flug vor 6 Uhr morgens. Direkt hinter der Security ist die Filiale von Tim Horton‘s schon geöffnet und alle, die durch die eine Schlange durch sind, stellen sich dann dort an – ich also auch. Ich kaufe mir zwei Donuts zum schnellen Frühstück, damit die Tabletten eine Basis bekommen. Einen mit Ahornsirup-Überzeug, einen mit Apfelstückchen und Zimt. Dann laufe ich Richting Gate und habe noch eine knappe Stunde bis zum Boarding. Der gute Souvenirladen, mit den schicken Nova-Scotia-Tartan-Sachen, hat leider noch zu. Also sitze ich herum, telefoniere mit dem Liebsten und blogge.
Im Flugzeug muss ich um meinen reservierten Platz kämpfen, weil die Leute, die da sitzen, sich einfach irgendwo hingesetzt haben, ohne auf ihre Bordkarten zu gucken. Dann sitze ich aber so, dass ich mich anlehnen kann, ohne meinen Arm zu belasten. Ich würde gerne weiter schlafen, aber das klappt so nicht – immerhin ein bisschen die Augen zu machen, bis der Service durchkommt. Hinter mir wird fleißig geschnarcht, das höre ich sogar durch die Noise-Cancelling-Kopfhörer. Zweieinhalb Stunden später landen wir genau zum Sonnenaufgang in Toronto.

Das Flugzeug spuckt mich aus in das Gewimmel eines riesigen internationalen Flughafens. So viele Menschen auf einmal habe ich seit einem Monat nicht mehr gesehen! Bis zum Gepäckband ist es ein weiter Weg, aber dafür ist mein Koffer dann auch schon da. Ich schnappe ihn mir und folge den Schildern, fahre mit dem Shuttle-Zug vom einen Terminal zum nächsten und nehme von da den Zug in die Stadt. Dann muss ich in die Streetcar umsteigen, was ein bisschen kompliziert ist – mangelhafte Beschilderung, fehlende Barrierefreiheit, ich muss teilweise über einen Hinterhofparkplatz laufen und wenn Google Maps und der Strom der Menschen mir nicht Sicherheit geben würden, würde ich denken, dass ich hier falsch bin. Dann aber lande ich an der richtigen Station, finde mein Streetcar und bin endlich in meinem Wohlfühl-Toronto. Anders als vor 19 Jahren, als ich hier gewohnt habe, werden die Haltestellen jetzt per digitaler Anzeige und Durchsage angekündigt, das macht vieles einfacher. Damals rief der Fahrer (meistens Männer) einfach irgendwann in seinem eigenen Dialekt/Akzent den Namen der Station nach hinten und ob man es hörte und verstand, war Glückssache. Außerdem musste man sich bei ihm einen „Transfer“ aus Papier abholen, wenn man umsteigen wollte und vorher Papiertickets kaufen oder Dollars in Metall-Tokens umtauschen. Heute hält man beim Einsteigen einfach sein Handy (oder eine Chipkarten) an einen Sensor – fertig.
Nach einer halben Stunde steige ich aus und laufe die letzten paar Meter zum Haus des Freundes in Kensington Market, bei dem ich übernachte. Er hatte mir geschrieben, dass er wahrscheinlich noch schlafen wird, der Schlüssel aber im Briefkasten liegt. Ich fische ihn heraus, lasse mich herein und finde drinnen weitere Zettel mit Infos und dem WLAN-Passwort. Hach. Kurz nach 9 Uhr Ortszeit, sieben Stunden nach dem Aufwachen, liege ich wieder auf dem Sofa und versuche ein Nickerchen. Natürlich erfolglos, ich bin zu aufgeregt. Also gucke ich, was ich in den letzten Stunden verpasst habe und mache Französisch und Italienisch. Eine Stunde später knurrt mein Magen und ich gehe wieder nach draußen (von Kensington Market anderthalb Blocks nach Süden, durch Chinatown hindurch bis zur Queen Street) und gönne mir dort ein richtiges Frühstück – kanadisch mit allem, was dazugehört.

Bis auf eine Scheibe Toast verdrücke ich das alles. Dann laufe ich wieder zurück, an dreisprachigen Straßenschildern vorbei. Hach, Multikulti-Toronto!

Wieder zurück ist mein Gastgeber inzwischen aufgestanden, macht mir einen Tee und dann sitzen wir erstmal und erzählen. Wir überlegen, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben und bekommen es nicht mehr so richtig zusammen. Zuletzt in dieser Wohnung war ich jedenfalls vor 16 Jahren, aber er war danach noch ein paar Mal in Berlin, allerdings haben wir uns da nicht jedes Mal gesehen und auch diesen Sommer leider verpasst. Egal, es ist schön, dass es jetzt klappt! Nach einem Stündchen oder so brechen wir zu einem gemeinsamen Spaziergang durch dieses und die angrenzenden Viertel auf – meine alte Hood sozusagen. Kensington Market, Queen West, Trinity-Bellwoods, Little Italy. Wir gucken bei meiner alten Wohnung vorbei und machen ein Beweisfoto und kehren dann in die einer Salatbar ein, wo mein Gastgeber einen Salat frühstückt und ich einen Mango-Hibiskus-Vanille-Eistee trinke.

Wieder zurück schmieden wir Pläne für die nächsten Tage und dann ist uns beiden wieder nach Nickerchen – klappt auch diesmal nicht bei mir, schließlich bin ich noch verabredet. Kurz vor 5 breche ich wieder auf und spaziere durch Kensington Market und den Discovery District (Museen, Universitäten, Parlament von Ontario) zu einem Restaurant, wo ich mich um 6 dann mit meiner Freundin treffe.










Das Wiedersehen ist toll! Wir wissen auch genau, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben, nämlich als ich das letzte Mal in Toronto war, also vor elf Jahren. Damals war das Kind der Freundin sieben, jetzt geht es in Montreal aufs College. Wir haben uns also viel zu erzählen und in unser beider Leben ist sehr viel passiert seitdem.
Nach dem dem Essen geht es um 8 weiter ins Theater, zu The Thanksgiving Play. Eine Gruppe von Menschen versucht im Native American Heritage Month, ein altersgerechtes Theaterstück über (das amerikanische) Thanksgiving für Grundschüler*innen zu inszenieren und dabei in keinerlei Fettnäpfchen zu treten und dabei auch noch die Kriterien mehrerer Stipendienprogramme zu erfüllen. Stichworte Awareness, Diversity, Equity, Wokeness, Political Correctness usw. Natürlich sind zwei der Protagonist*innen auch noch aus der Yoga-Bubble und eine stellt sich im Laufe des Stücks als Weiße heraus, die nur „auch“ Native-Rollen spielt.
Es werden wirklich alle Register gezogen, rassistische Klischees bloßgestellt und gleichzeitig den aktuellen Bemühungen der Spiegel vorgehalten. Trotzdem bleibt es irgendwie unbefriedigend und hinter den Erwartungen zurück, will zu viel und schafft zu wenig. Einige Besucher*innen gehen schon während des Stücks, am Ende gibt es nur kurzen Höflichkeitsapplaus (niemand ist von der Bühne bevor er endet) und zur anschließenden Q&A-Session bleiben nur eine Handvoll Leute sitzen – wir nicht. Besonders meine Freundin ist enttäuscht, zumal das Drehbuch von einer indigenen Dramaturgin ist, die Regisseurin schon viele indigene Stücke inszeniert hat und einer der Schauspieler ihr schon aus gemeinsamen Arbeiten bekannt ist. Hmm.
Wir laufen gemeinsam zur Streetcar und fahren noch eine Weile zusammen, bis ich aussteigen muss. Kurz danach bin ich wieder „zuhause“, wo mein Gastgeber – ganz Kanadier – Hockey guckt. Ich schaue noch eine Weile mit, aber gegen 11 bin ich einfach zu platt. Wir beziehen die Couch für mich und er geht in seiner Stammkneipe weitergucken. Ich habe 21 Stunden Tag nach fünf Stunden Nacht hinter mir, 27.777 Schritte (mein persönlicher Rekord, 20,57 km) und zwei Wiedersehen nach langer, langer Zeit. Zum Einschlafen gucke ich noch Barack Obamas Wahlkampfauftritt für Kamala Harris heute in Pittsburgh, aber darüber fallen mir dann tatsächlich die Augen zu (und das Handy aus der Hand).

















































































