Heute ist in Kanada Feiertag – je nach Provinz haben alle oder nur Teile der Bevölkerung frei – in Nova Scotia sind es nur Staatsbedienstete und Angestellte vieler Unternehmen, während Supermärkte und Co. offen sind. Der Anlass ist der Truth and Reconciliation Day, an dem die Aufarbeitung der Verbrechen an der indigenen Bevölkerung gefeiert wird und der vielen tausenden Opfer/Überlebenden der Residential Schools gedacht wird, von denen die letzte erst 1997 geschlossen wurde – ein Jahr, nachdem ich das erste Mal in Kanada war.
Zum Feier- bzw. Gedenktag gibt das Wetter heute nochmal alles. Wir frühstücken draußen, es gibt u. a. Beeren und Lachs, der Umgebung angemessen.


Dann nochmal eine Runde Yoga draußen auf dem Deck, auch wenn ich wegen Armweh und Schwierigkeitsgrad heute hauptsächlich das Video anschaue und staune. Dann heißt es anziehen – orangenes Shirt ist heute quasi Pflicht – und los ins Nachbarstädtchen, wo heute Teil 1 der Veranstaltungen zum Truth and Reconciliation Day stattfindet.

Es gibt eine Bühne mit Trommelgruppe und verschiedene Stände für Kunst und Essen. Etwa 300 Leute sind gekommen (es ist eine recht kleine Stadt), viele sind Indigene in traditioneller Kleidung und fast alle tragen orangene Shirts. Der Emcee eröffnet den Tag auf Mi:kmaw und spricht erst danach Englisch.


Er erzählt von seinem Vater, der ein Überlebender der Residential School in Shubenacadie war und spricht darüber, wie im Prinzip alle Indigenen in Kanada Vorfahren oder Verwandte haben, die Opfer des Systems geworden sind. Diejenigen, die überlebt haben sind tief traumatisiert, wurden in jüngsten Jahren ihren Familien entrissen, ihrer Sprache beraubt, lebten unter furchtbaren Bedingungen und wurden oft auch physisch missbraucht. Ihre Wunden haben sie ein Leben lang begleitet und ihre Traumata wurden und werden vererbt. Viele andere haben das System nicht überlebt. Im Umfeld von Residential Schools werden immer wieder Kinderleichen in Massengräbern geborgen. Und viele sind ganz verschwunden, entweder weil sie geflohen sind und auf der Flucht in der Wildnis umkamen, oder weil es keine Überreste mehr zu finden gibt. Später wird einer der Überlebenden berichten, dass er von 137 Kindern aus Shubenacadie weiß, von denen jede Spur fehlt – sie verlieren sich im Fluss, im Ofen und auf der Schweinefarm nebenan…
Es sind furchtbare Geschichten, die erzählt werden. Die Enkelin einer Überlebenden nimmt uns mit auf eine Gedankenreise, zu ihrer damals vierjährigen Großmutter. Immer, wenn das Auto des Indian Agents ins Dorf kam, wurde sie von ihrer Mutter in den Wald geschickt, um sich zu verstecken. Einmal musste sie mehrere Tage dort ausharren, alleine und ohne Nahrung und Wasser, voller Angst – mit vier!
Die Organisatorin des Tages berichtet, dass sie erst in den letzten Jahren, erfahren hat, dass ihre eigenen Onkels und Tanten auch auf in der Residential School waren. Ab dem Alter von 4-5 Jahren wurden die Kinder eingesammelt und oft sahen sie ihre Familien nie wieder. Deshalb fingen die Erwachsenen an, sich von den Kindern zu distanzieren, sobald sie in das kritische Alter kamen, damit der Verlust für beide Seiten weniger schmerzhaft wird. Und man begann, Geburten nicht mehr zu registrieren, sich dem staatlichen System so weit wie möglich zu entziehen – Kinder, von denen keiner weiß, haben eine Chance, dem System zu entgehen.
Es gibt viele Redner*innen heute, auch eine weiße Lokalpolitikerin, die aber lieber denjenigen die Bühne überlässt, die etwas zu sagen haben und die angehört werden sollen. Dazwischen gibt es Gedichte, Gesang, Tanz. Heilen werden die Traumata nie, aber durch Gemeinschaft, Erinnerungen, Aufarbeitung und die Wiedereroberung der eigenen Sprache und Traditionen kann es vielleicht irgendwann zur Aussöhnung und einem gemeinsamen nach vorn blicken kommen. Wir als Weiße haben da hauptsächlich still zu sein, zuzuhören und zu lernen, zum Beispiel über die 94 Calls to Action – es ist nicht unser Trauma, aber wir können für diejenigen da sein, die damit kämpfen.



Irgendwann brechen wir auf, erledigen noch Einkäufe und fahren dann wieder nach Hause, den Kopf voller Gedanken.

Es gibt Blaubeer-Cranberry-Muffins auf dem Deck und immer wieder Besuch vom Eichhörnchen, das hin und her flitzt und Eicheln mampft.

Richtung Sonnenuntergang essen wir dann ein Abendbrot mit Stulle, Salat und Rührei und dann entfliehe ich den Gedanken endgültig und gucke weiter die 1.-Weltkrieg-Staffel von Downton Abbey…