Ich wache ziemlich genau Punkt 6 Uhr auf, was eigentlich zu früh ist, mir aber Zeit gibt, ganz in Ruhe im Bett zu liegen und all die morgendlichen Dinge zu tun und sogar noch mit dem Liebsten zu telefonieren, bevor ich gegen 9 aufstehe und nach unten gehe. Mein Cousin und ich frühstücken eine gute Stunde gemütlich gemeinsam und reden über dies und das – Familiengeschehnisse, das neue Haus, Urlaubs- und Zukunftspläne, die allgemeine Weltlage… Gegen 10:30 Uhr beginnt er, weiter an Haus und Garten zu werkeln und ich mache mich auf in einen Streunertag in Rostock.

Ich laufe als erstes einmal direkt runter zur Warnow und dann durch grüne Wiesen am Fluss entlang Richtung Nordwesten, das Stadtzentrum gegenüber immer fest im Blick. Dann komme ich nach Gehlsdorf, wo sich die verschiedenen Wassersportvereine mit ihren Marinas, die nur für Mitglieder und deren Gäst*innen zugänglich sind, aneinanderreihen und freue mich an der deutschen Vereinsmeierei durch die Epochen: Rostocker Ruder-Club von 1885 e.V., See- und Segelsportverein der Hansestadt Rostock e.V., Mecklenburgischer Yachtclub Rostock e.V., Rostocker Yachtclub e.V., Segler-Verein Turbine Rostock e.V., Akademischer Segler-Verein zu Rostock e.V. Dahinter kommen noch ein paar Stadtvillen und Grünfläche, auf dem Fluss kraulen die Teilnehmenden des „Warnowschwimmen 2023“, begleitet von Schlauchbooten und Kajaks der DLRG, an mir vorbei.



Und dann bin ich am Fähranleger und bekomme venezianische Gefühle, als ich mit dem mit Solarstrom betriebenen „Warnowstromer“ vaporettoähnlich zum Stadthafen übersetze. Gehört ganz normal zum ÖPNV und ist damit auch in meinem 49-Euro-Ticket enthalten. Tatsächlich habe ich diese Fähre in über 20 Jahren regelmäßiger Rostock-Aufenthalte (inklusive 6 Jahre hier wohnen und plus diverser Kindheitsausflüge) vorher maximal einmal benutzt – als sie noch nicht solarbetrieben war jedenfalls. Ich war aber auch überhaupt sehr selten auf dieser Warnowseite, mal eine Tante in der Klinik hier besucht, mal von hier aus losgesegelt, mal durchgefahren, um Richtung Markgrafenheide oder auf den Darß zu kommen, das war’s. Mein komplettes Rostock-(Er-)Leben spielte sich südlich und westlich der Warnow ab, bis mein Cousin jetzt auf diese Seite zog. Danke, Cousin, für diesen Morgenspaziergang hat sich das schonmal gelohnt. 😉

Dann bin ich wieder in „meinem“ Rostock und vor allem in der KTV. Hier habe ich den Großteil meiner Unizeit über gelebt, hier hat meine Familie viele Jahre lang gelebt, der Großteil meiner Rostocker Freund*innen auch und das kulturelle und soziale Leben spielte und spielt sich vor allem hier ab. Ich spaziere gemütlich Richtung S-Bahn, freue mich an den bunten Häusern, schaue am Stammcafé vorbei, das zwar noch nicht offen hat, aber da der Besitzer ein guter Freund ist, hätte ich auch vorher schon ein Getränk und einen Schwatz bekommen, wenn er denn schon da wäre. Ist aber noch alles zu. Stattdessen treffe ich auf einen anderen Freund, der sein Büro nebenan hat, und sage kurz „Hallo“.

Dann laufe ich wirklich zur S-Bahn und fahre durch bis Warnemünde. Instantane Erinnerungen an Kindheitsspaziergänge mit Oma, Sommertage am Strand mit den Kommiliton*innen, spätere Besuche mit dem Indiejungen, Il Professore, dem Hasen, dem Liebsten… Heimatgefühl gepaart mit dem Entsetzen wie sehr Disneyland es hier inzwischen ist. Aber die Nostalgie übertüncht doch das Befremden. Als Nachkommin echter Warnemünder*innen (zugezogen, aber passioniert) laufe ich erst auf den Fischmarkt für ein Fischbrötchen, anstatt zu den Touristenfallen auf der anderen Stromseite zu gehen. Bis mir nach und nach aufgeht, dass keine Form von Imbissfisch irgendwie histaminfrei oder -arm ist. Mariniert oder geräuchert fällt aus und einige Fische gehen auch gar nicht. Essen könnte ich z. B. Scholle, Rotbarsch oder Kabeljau, aber eben nur frisch aus dem Meer geholt und direkt gebraten. Das gibt es hier auch, aber eben als richtiges Gericht zum Hinsetzen mit Beilagen und da es heute noch viel zu essen geben wird, mache ich das nicht.

Stattdessen laufe ich unverrichteter Dinge den Strom entlang zur Mole und von dort an der gleichen Lücke wie seit fast 40 Jahren (wahrscheinlich seit ich laufen kann) hinunter auf den Strand. Schuhe und Socken ziehe ich aus und dann stapfe ich hinunter ans Wasser.


Das Wetter ist maritim-wechselhaft. Strahlendblauer Himmel und Wolken in schneller Folge, um die 20 Grad aber kalter Wind. An gefährlichen Stellen mit Strömungen ist das Schwimmen verboten, aber auch die anderen Flaggen sind gelb-rot bis orange und es sind nicht allzu viele Leute im Wasser. Ich spaziere mit den Füßen im Wasser ein Stück Richtung (Hotel) Neptun und lege mich dann gemütlich in den Sand und tanke Vitamin Sea. Wind, Gischt, Möwengeschrei, Salz- und Algenduft in der Nase und feiner Warnemünder Strandsand zwischen Fingern und Zehen.

Eine gute Stunde liege ich da, mache zwischendurch auch mal die Augen zu und döse. Irgendwann ist die Wolkendecke zu groß und es wird mir zu kühl zum Liegen. Ich laufe noch ein Stück durchs Wasser und dann zurück Richtung Promenade und komme an dem Strandaufgang hoch, den ich sowohl als Kind als auch als Studentin immer benutzt habe.



Auf dem gleichen Mäuerchen wie immer sitzend entsande ich meine Füße und ziehe wieder Schuhe an. Dann geht es die Promenade entlang zum Leuchtturm und zum Teepott und dann den Strom entlang wieder zurück zum Bahnhof.


Mit der S-Bahn fahre ich zurück in die KTV und laufe dann zum Stammcafé. Inzwischen habe ich richtig Hunger. Leider ist mein Freund heute nicht in Dienst, sonst bliebe ich hier wahrscheinlich wie sonst viele Stunden. Stattdessen suche ich mir nacheinander zwei Stücken Kuchen aus (die einzigen beiden histaminarmen), trinke eine Limonade, sitze an einem Tisch draußen und gucke in die Gegend. Eine Bekannte läuft mit ihren beiden größeren Kindern vorbei, ich sehe sie aber zu spät und sie mich gar nicht – wir schreiben uns dazu später noch auf Instagram. Als ich gerade aufbrechen möchte, kommt eine weitere Bekannte mit ihrer Tochter gerade an und holt sich einen Kaffee und wir quatschen einen Moment.





Ich breche gerade rechtzeitig auf, um zu den ersten Regentropfen bereits in der Straßenbahn zu sitzen, die mich durch die Altstadt zurück zu meinem Cousin auf die andere Warnowseite bringt.

Als ich ankomme, werden gerade die Einkäufe ausgepackt und dann fangen wir an zu kochen.


Es wird eine große Runde heute Abend. Zu meinem Cousin, seiner Freundin, der Hündin und mir stoßen noch sein Bruder – mein Couin – mit dessen Freundin, sein Vater – mein Onkel – mit dessen Freundin, ein anderer Freund aus Rostock und zwei Freund*innen aus Berlin. Wir essen Gemüselasagne, Möhrensalat (beides für mich jeweils in einer histaminarmen Variante als Extraportion), Kartoffelsalat und Aprikosenkuchen (für mich ohne Eis und Vanillesauce).


Ein Feuer brennt im Kamin, eins in der Feuerschale draußen und es wird viel erzählt und gelacht. Gespräche, die ich mitbekomme, drehen sich u. a. um die Arbeitsbedingungen freier Journalist*innen, Bordklos auf Segelbooten, Keramikkurse, Ferienunterkünfte in Dänemark und auf Hiddensee, Puppenspieler zu DDR-Zeiten und heute, neue Trends im Surfsport (Foils und Wings), die Konzertkultur in Rostock nach Corona, Nazis in der Lausitz und im Erzgebirge, gefährliche Strömungen auf Jamaika und in Nova Scotia, Robbenjagd in Grönland, Weiße Haie und Orcas… Es wird nicht langweilig, aber alle sind ziemlich müde und vollgefressen und kurz vor 23 Uhr sind alle Gäst*innen auf dem Heimweg und alle Hiergebliebenen im Bett.