07.06.2023 – re:publica Tag 3 und Jimmy Kelly live

Das war eine kurze und unruhige Nacht, der Kopf voller Input, die Nase noch etwas zu, das Licht früh wieder da und die Katzen gelangweilt und unterkuschelt, weil ich gestern den ganzen Tag unterwegs war. Ich habe also wieder viel Zeit für die Morgenroutine und bin dann trotzdem irgendwie erst hektisch aus dem Haus und gute 10 Minuten vor Session-Start vor Stage 3 der re:publica. Es geht darum, wie KI für gute Arbeit eingesetzt werden und dabei negative Auswirkungen auf die Arbeitenden möglichst gering gehalten werden können. Klappt am besten – wen wunderts – da wo es starke Arbeitsgesetze und Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt.

Gute Arbeit ist auch das Thema des nächsten Panels auf Stage 1, auch wenn die versprochenen 10 Tipps für eine bessere Arbeitswelt irgendwie nicht gegeben wurden. Nachschauen auf YouTube lohnt sich aber allemal. Einen Ansatz werde ich direkt morgen unserer Head of Diversity, Equity & Inclusion als Anregung weitergeben.

Nach den zwei intensiven Sessions gönne ich mir eine kurze Pause draußen auf dem Deck des Badeschiffs und kümmere mich auf dem Diensthandy um Arbeitsdinge (soviel zu Pause, also: Luftveränderung). Dort findet mich der Neffe 2. Grades wieder, der eine Runde planschen gehen möchte. Ich passe solange auf seine Sachen auf und danach unterhalten wir uns noch ein bisschen und geben uns Updates über unsere Teile der Familie. Dabei profitiert er von meiner Sonnencreme und ich von seinen Radieschen. Dann ziehe ich weiter zum „Tod in der Netzgemeinde“, denn in den letzten Jahren sind so einige gestorben, die ich vermisse. Ich habe aber gerade nicht die richtige Stimmung dafür und dringende Selfcare-Bedürfnisse, daher gehe ich recht schnell wieder, nutze die während Sessions relativ kurzen Schlangen am Klo und der Trinkwassersäule und gehe dann zu Susanne Mieraus Lightning Talk darüber, wie wir die Welt durch stärkere zwischenmenschliche Beziehungen verbessern und die Probleme gemeinsam bewältigen können.

Von da geht es direkt weiter zum Gespräch mit Robert Habeck, der ebenfalls versucht, Mut zu machen, dass wir die positiven Veränderungen, die es braucht, nur gemeinsam bewältigen können und eher aufeinander zugehen als aufeinander rumhacken sollten. Hmm ja, sie haben ja alle vermutlich Recht, aber das ist schon auch der anstrengendere Weg, damit umzugehen, näch? Ich gelobe innerlich Besserung, erlaube mir aber weiterhin, Faschos zu verurteilen. 😉

Nach Habeck war es dann schon 15:30 Uhr und mein Magen knurrte wieder. Ich lief zum quasi geheimen zweiten Food Court und holte mir eine Portion Pommes mit grüner Salsa. Unterwegs fallen mir die Schuhe einer Teilnehmerin auf und ich frag nach. Sie kann mir sofort Modell, Marke und Bezugsquelle nennen – ich bin schwer beeindruckt, beim Recherchieren hinterher stolpere ich aber über den Preis (über 100 €) und ich unterlasse einen impulsiven Spontankauf. Stattdessen leihe ich solidarisch meinem Cousin meine Powerbank und ein Ladekabel für eine Session, obwohl mein Akku auch schon langsam zur Neige geht. Seht Ihr, Beziehungspflege! Dann komme ich an der Gedenkwand vorbei, an der denen gedacht wird, die nicht mehr unter uns sind, und füge einen Zettel für Sophie hinzu.

Die nächste Session dreht sich darum, wie sich rechtsextreme Gruppen finanzieren und über welch perfide Wege sie Geld einnehmen. Ich verurteile fleißig innerlich. Danach bekomme ich Powerbank und Ladegerät zurück, hole mir eine hausgemachte Limettenlimo und setze mich in einen Liegestuhl auf dem Deck. Ich arbeite noch ein wenig auf meinem Diensthandy, gucke aufs Wasser, telefoniere mit dem Liebsten und dem Teilzeitkind… Und breche dann auf, kurz bevor die Closing Ceremony beginnt. Davor hatte ich ein wenig Angst, denn die Closing Ceremony gehört eigentlich untrennbar zur re:publica für mich, es ist nicht vorbei, bis wir gesungen haben! Aber diese re:publica begann ja auch unkonventionell für mich und so ist es irgendwie OK.

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Ich spaziere also bei schönsten Sommerwetter entlang sich kreuzender Kanäle von Alt-Treptow durch Kreuzberg 36 nach Neukölln, ein Spaziergang voller Kontraste: Das Wetter genießende Hipster, Expats und Yuppies, die mit Bieren am Ufer sitzen, auf Wiesen liegen und sich in Schlauchbooten auf dem Wasser treiben. Zelte, in denen Obdachlose hausen. Familien mit und ohne Migrationsvordergrund, die heimlich grillen.

Dealer, die in Gebüschen stehen und auf sich aufmerksam machen. („Nein danke, ich hab noch“, ist meine go-to Antwort). Und dann in Neukölln die Mischung aus den hippen Gentrifizierungsbeweisen, den migrantisierten „Ureinwohner*innen“ und den vielen, vielen Obdachlosen rund um den Herrmannplatz. Irgendwo auf dem Weg ist auch mein Schrittziel übrigens erreicht.

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Und dann bin ich am Huxleys, lasse mein Ticket scannen und meinen Beutel durchsuchen. Ich gebe meine Trinkflasche ab und bekomme eine Pfandmarke und dann darf ich nach oben gehen, wo schon Lina Bó als Vorband spielen, bevor kurz nach 20 Uhr Jimmy Kelly & The Street Orchestra die Bühne stürmen. Es folgt eine Auflistung von Bemerknissen:

-Jimmy ist meines Wissens der einzige Kelly, der eine Vorband hat – weder die Kelly Family noch die anderen solo machen so etwas eigentlich normales und Nachwuchs förderndes

-Auf der Bühne stehen 13 Musiker*innen (zum Finale inkl. Vorband dann 15) und bis auf seine eigene Frau hat Jimmy die alle entweder auf der Straße bei Straßenmusik kennengelernt oder im Internet nach ihnen recherchiert. Alle sind ausgebildete Musiker*innen und sowohl virtuos als auch mit einer wahnsinnigen Bühnenpräsenz, Spielfreude und Showmanship gesegnet. Am Schlagzeug sitzt eine Frau, ein Gospel singendes Paar ist ebenso dabei wie Leute am Akkordeon, der Geige, der Mandoline, diversen Blasinstrumenten etc. etc. Alle Songs werden mit gewaltiger Instrumentalkulisse und mehrstimmigem Satzgesang arrangiert und alle Musiker*innen haben immer wieder Soli und andere Glanzmomente und Showeinlagen.

-Jimmy ist der einzige Kelly, zu dessen Konzerten ich unbesehen jede*n mitnehmen würde, ohne mich zu schämen. Hammergut ist das heute wieder!

-Das Konzert dauert drei Stunden mit nur einer 10-minütigen Pinkelpause. Insgesamt werden 27 Songs gespielt, davon fünf Jimmy-Songs von der Kelly Family, sechs Solo-Songs von Jimmy und 16 Folksongs oder Traditionals aus aller Welt – irisch, amerikanisch, französisch, spanisch, deutsch oder jüdisch, in fünf verschiedenen Sprachen, vom Chanson über den Gospel zum Folksong, alles mit dieser atemberaubend dichten Soundkulisse.

-Das Konzert beginnt mit „I can’t stop the love“, dem Opener des legendären Tough Road Konzerts der Kellys 1994 in der Westfalenhalle, damit sind sofort alle Langzeitfans emotional am Anschlag, auch ich.

-Ich habe meinen Platz zwei Reihen vor dem FOH bezogen. Es gibt Stühle, aber gesessen wird nur ganz selten, bei einigen ruhigen Stücken und in der Pause. Zwischen mir und dem FOH sitzen zwei amerikanische Bekannte des Gospel-Pärchens, die nur wegen der beiden heute da sind und kaum glauben können, was da auf der Bühne so abgeht und wo ihre Freund*innen da hineingeraten sind. Erst sind sie irritiert, wie die Menge von Anfang an abgeht und jubelt, dann unterhalten sie sich viel oder gucken in ihre Handys. Doch je mehr die Party steigt, desto mitgerissener sind sie. Sie sind voller Bewunderung für Jimmys Stimme und wie dieser Mann singen kann, sie loben jede musikalische Großtat der verschiedenen Musiker*innen. Sie sind völlig außer sich, als zu einem irischen Volkslied diese merkwürdigen Deutschen plötzlich mit einer Polonäse durch den Raum tanzen (ich nicht, keine Sorge) und fasziniert, wie einfach alle mitsingen, mitmachen und die ganze Zeit tanzen und ausflippen. Bei den Songs, die Gesangssolos ihrer Freund*innen haben, flippen sie selbst völlig aus und jubeln. Und als dann auch noch ein Gospelpart kommt – mit „I‘ll Fly Away“ und dem Kelly-Song „Lord Can You Hear My Prayer“ gehen sie völlig mit und improvisieren zusätzliche Stimmen und Gospel-Verzierungen hinzu. Ich habe quasi ein Meta-Konzerterlebnis.

-Und ich tanze, singe und hüpfe wirklich die ganze Zeit mit. Die kurze Nacht, der Konferenztag, der Fußmarsch hierher und all die körperliche Unbill seit dem St. Patrick‘s Day sind plötzlich vergessen. Kein Vergleich zu dieser Zeit vergangenes Jahr, als ich nach der ersten Corona-Infektion noch völlig in den Seilen hing und beim Tocotronic-Konzert auf der re:publica keinen Song stehend geschweige denn tanzend durchhalten konnte!

-Wir haben gesungen, was haben wir gesungen, das hier ist emotional viel besser als die Closing Ceremony und ihr Bohemian Rhapsody (gucke ich mir natürlich trotzdem noch auf YouTube an in den nächsten Tagen)

Kurz nach 23 Uhr und nachdem die Band bei der zweiten Zugabe nochmal so richtig richtig aufgedreht hat, ist das Konzert vorbei. Ich bringe meinen Becher zurück (es gab ein alkoholfreies Hefeweizen, ich weiß, wie man feiert), löse meine Wasserflasche aus und fahre mit U- und Straßenbahn nach Hause. Um Mitternacht liege ich im Bett und habe 22.680 Schritte auf der Uhr – neuer Rekord, seit ich vor zwei Jahren das FitBit gekauft habe.